Faszination Lost Places – das Geheimnis verlassener Orte
Eine Reflektion über Lost Places und das Hobby Urban Exploring (Urbex)
Alles hat seine Zeit und damit auch seine Vergänglichkeit. Lost Places in Deutschland und überall auf der Welt hatten ihre Zeit und ihre Bedeutung, bis sie aus diversen Gründen verlassen wurden. Wörtlich übersetzt heißt Lost Places eigentlich verlorene Orte. Da es sich um städtischen Verfall handelt, spricht man auch von Urban Exploring – in der Kurzform Urbex. Ob die verlassenen Orte wirklich verloren sind oder einfach nur leer stehen und auf eine Neunutzung warten, ist immer unterschiedlich und ändert sich manchmal auch. Eines aber haben sie gemeinsam: einen faszinierend morbiden Charme.
Der Verfall gibt diesen verlassenen Gebäuden in meinen Augen eine neue, ganz eigene Schönheit und einen besonderen Reiz. Risse in den moosbedecken Wänden alter Gasthöfe, abgeblätterte Farbschichten in ehemaligen Heilstätten, schief hängende Gardinenstangen in verlassenen Hotels, Pflanzenwuchs in verlassener Industrie – die vielfältigen Facetten des Verfalls üben auf mich eine erstaunliche Anziehungskraft aus. Manchmal finde ich noch zurückgelassene Gegenstände aus längst vergangener Zeit, z.b. Röhrenfernseher, Sessel und Gardinen aus den 1970ger, Chemieflaschen im Labor oder Wäschenkörbchen in einer Wäscherei.
Besonders erstaunt war ich, als ich in den verlassenen Hotels im Harz alle Zimmer voll eingerichtet vorfand, als wären sie noch in Betrieb. In einem Hotel gab es sogar noch die Wella-Friseurhauben. Solche Relikte zu entdecken, macht das Erkunden von Lost Places (als Verb: urbexen) zu einem besonderen Erlebnis.
Ein Lost Place kann auch zu einer begehbaren Kunstausstellung werden.
Die Gesichter der verlassenen Orte sind so vielfältig wie ihre Geschichten. Das Erkunden der Lost Places ist immer eine spannende Zeitreise.
Doch die Zeiten haben sich gewaltig geändert – leider nicht zum Positiven:
Als ich 2013 mit dem Urbexen anfing, waren die Orte noch relativ unbelastet. Natürlich haben sich schon damals Kabel- und Metalldiebe ausgetobt. Doch was früher von wenigen echten Urbexern als Urban-Exploring-Hobby mit dem Ziel schöner Fotos und Erlebnisse für sich selbst betrieben wurde, ist inzwischen zum Massentourismus ausgeartet. Die Lockdowns in Corona-Zeiten haben Scharen junger Leute in dieses für mich so geliebte Hobby getrieben. Die Medien haben die Lost Places mit ihrer Darstellung als „aufregendes Abenteuer“, was es zu erleben gilt, extrem angefeuert. Zeitungen nennen sogar Ortsnamen. Es werden Bücher mit Ortsnennung veröffentlicht. Für mich unverständlich und nicht nachvollziehbar. Es sollte eigentlich klar sein, dass Ortsnennungen für den Erhalt von Lost Places nicht gerade förderlich sind. Die sozialen Netzwerke gaben diesem Hobby schließlich den Rest. Es geht längst nicht mehr darum, für sich selbst etwas zu entdecken – sonst würden diese Leute ja nicht sooofort alles posten. Nein, es geht um Aufmerksamkeit, Follower und Selbstdarstellung. Während es früher hip war, einen coolen Stund auf dem Skateboard zu schaffen, kommt man sich heute wichtig vor, wenn man in einem wenig bekannten Lost Place bzw an bestimmten Locations war. Eine „location“ (oder auch „Spot“, wie man in der Szene sagt), ist zum Vorzeigeobjekt geworden. Ein echter Urbexer hat den Ehrencodex „leave nothing but footprints“. Davon gibt es neben mir nur noch wenige. Immer öfter wird umdekoriert, Sachen werden einfach mitgenommen oder – keine Seltenheit mehr – es findet Vandalismus und Brandstiftung statt. Teilweise bewusst, damit andere kein Foto mehr machen können. Ja, das Hobby ist leider auch von Hohlbirnen durchsetzt. Einfach nur traurig. Der Respekt gegenüber den verlassenen Orten ist auf der Strecke geblieben. Sobald ein Ort bekannt wird, rennen alle hin. Er wird regelrecht platt getrampelt. Die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit macht den eben noch besuchten Ort in wenigen Tagen schon wieder unwichtig. Ein neuer muss her. Damit tragen alle dazu bei, dass dieses Hobby, in dem es um den Ort und nicht um Konkurrenz geht, leider zu einer Hetzjagd geworden ist. Der Vollständigkeit halber muss man ergänzen, dass marode Gebäude auch immer schneller abgerissen werden. Klar, die Grundstückspreise und Wohnungsmangel machen’s.
Für mich bleibt der Besuch in einem Lost Place weiterhin mit einer entschleunigten Zeitreise verbunden, immer mit Respekt für den Ort. Ich genieße die Stille und nehme mir in Ruhe die Zeit, den Ort in mich aufzunehmen. Und es wäre schön, wenn ich die Lost Places bewahren könnte. Aber man kann die Zeit und damit einhergehenden Veränderungen nicht aufhalten.