Das Sanatorium “Erholung”
Als eines von insgesamt 14 Sanatorien im Ort lag das Sanatorium mit dem Namen “Erholung” am höchsten
Die Sonne scheint. Das ist immer gut für einen Lost Place. Die Strecke dorthin ist an sich schon die Fahrt wert, denn die umliegende Natur, die weiten Felder, die saftig grünen Wiesen und die sanften Hügel wirken angenehm beruhigend. Es ist das zweite Mal, dass ich in dieses verlassene Sanatorium besuche, denn beim ersten Mal war ich nicht so ganz zufrieden mit meinen Bildern. Das Abenteuer, das dieser Lost Place bietet, lohnt auch so eine Wiederholung. Ich habe schon viele merkwürdige, skurille und nicht ganz ungefährliche Erlebnisse hinter mir, doch dieses Sanatorium toppt alles. Es ist bereits teilweise eingestürzt, ganze Etagen sind weg gebrochen, sodass man vom Erdgeschoss bis auf den Heizkörper in einem Zimmer im 2. hoch schauen kann. Es ist schon ein eigenartiger Anblick, von außen in offene Räume schauen zu können, weil die Wände fehlen. Es erinnnert mich ein bisschen an Puppenstuben, wo man ja auch als Außenstehender einfach in alle Räume guckt.
Über den Hang hinter dem Sanatorium klettere ich hinab bis zum umgebenden Graben und wage einen großen Sprung hinüber, um auf dem Sims der Hintertür zu landen. Über mir knarrt es immer mal wieder von überall her, da das bröselige Mauerwerk und die vom Wetter stark beeinträchtigten Holzbalken inzwischen viel Kraft aufwenden müssen, um sich noch gegenseitig aufrecht zu halten. Meine Warnmelder-Antennen sind deshalb auf Hochspannung gestellt.
Wie immer werfe ich zuerst einen Blick in den Keller. Ich richte gerade mein Stativ aus, um den alten Holzschrank zu fotografieren, da heult auf einmal die Feuersirene los! Mein Herz bleibt stehen! Die Sirene kommt direkt von der Feuerwache gegenüber! “Ach Du schei…”, denke ich. Leichte Panik ergreift mich! Sollte etwa über mir Feuer ausgebrochen sein? Das fehlte mir ja noch – ich im Keller und über mir ein Brand. Ich halte meine Nase höher in die Luft und schnuppere angestrengt aus dem Fenster und in den Treppengang. Nichts. Die Sirene heult bedrohlich weiter, immer auf und ab. Ein schrecklicher Ton, der in mir sofort ein Gefühl der Gefahr auslöst, obwohl ich ja nun nicht zu der alten Kriegsgeneration gehöre, die eine Sirene mit Gefahr in Verbindung bringt. Schon komisch, was ein Ton so unbewusst in einem auslöst. Mein Herz pocht stark, mir wird ganz flau. Hektisch schraube ich mein Stativ zusammen und gehe eilig aber konzentriert die Treppe hoch – immer noch mit weit aufgeblähten Nasenflügeln und Ohren, die plötzlich gewachsen zu sein schienen. Ich halte den Kopf schräg und lausche angestrengt. Ich rieche keinen Brandgeruch, ich höre kein Knistern oder Prasseln von einem möglichen Feuer. Schnell wäge ich ab, was ich jetzt am besten mache, schließlich habe ich das Thema mit Brandstiftung schonmal live während meines Besuchs der ehemaligen Irakischen Botschaft in Berlin erlebt und keine Lust auf Wiederholung! Ich überlege, zu gehen und male mir aus, wie ein ganzer Feuerlöschzug angerückt kommt, während ich gerade um die Ecke des Sanatoriums komme, um dann in der ungünstigen Situation zu sein, beweisen zu müssen, dass ich nichts angezündet habe und nur eine harmlose Fotografin bin. Ich könnte auch in den Wald hinter mir gehen und eine Weile warten, bis die Löscharbeiten begonnen haben, um dann ganz harmlos wirkend den Eindruck einer gerade zufällig zurückkehrenden Wanderin zu bieten. Die Sirene fährt herunter und verstummt. Es folgt auch kein Tatütata von einer Feuerwehr. Also bleibe ich und mache mich auf die Suche nach den tollen Motiven, die es hier gibt.
Das alte Mauerwerk, die Reste der Wandfarben und das leichte Moos hier und da bieten im langen Gang des Erdgeschosses bei dem einfallenden strahlenden Sonnenlicht ein unglaubliches Farbspiel. Es wirkt fast wie mit Buntstiften bemalt. Im ersten Stock liegt über einem großen Loch im Gang eine Tür, quasi als Brücke. Von allein ist sie garantiert nicht dorthin aus den Angeln gefallen. Sicherlich ist es keine schlechte Idee gewesen, dennoch unterlasse ich es lieber, über die Tür weiter zu gehen, da ich nicht einschätzen kann, wie stabil der Boden dort und weiter danach ist. Der Ausblick vom meinem aktuellen Standpunkt aus lässt schon genug Spannung aufkommen, da ich in dem Seitenflügel direkt an der Hauswand stehe, die mal als Seitenwand zum hinteren Hausteil diente, aber inzwischen weggebrochne ist und tief unter mir in Form von Einzelteilen liegt. Ich habe also freien Blick in die Nebenzimmer, wenn sie denn noch vorhanden wären. Aber außer einem einsamen Heizkörper, der schon auf halb acht hängt, liegt der Rest ebenfalls eine Etage tiefer. Dass das Sanatorium überhaupt noch steht, vor allem an der Stelle, wo ich stehe, erstaunt mich. Nicht, dass ich es gerne anders gehabt hätte, schließlich möchte ich noch heile aus dem eigentlich schönen Gebäude herauskommen. Doch das leichte Rieseln von Mörtel zeigt mir klar, dass die Tage gezählt sind und ich Acht geben muss.
Die Sonne steht bereits tief, Wind kommt auf, die knarrenden Geräusche werden konkreter. Vor dem Sanatorium steht noch ein kleines Häuschen, dass ich noch nicht begutachet habe und natürlich nicht links liegen lassen kann. Schon in den wenigen Minuten, während ich um das Gebäude des Sanatoriums gehe, frischt der Wind bedrohlich heftig auf, Gewitterwolken rollen heran. “Wenigstens ein kurzer Blick hinein”, denke ich. Gesagt, getan. Der Wind zerrt inzwischen an meinem T-Shirt, die Bäume biegen sich. “Zeit zum Abflug”, entscheide ich, aber ich muss noch einmal in das Erdgeschoss des Sanatoriums, denn meine Fototasche hatte ich drinnen gelassen. Mir ist etwas mulmig zumute, schließlich weiß ich nicht, was das Gebäude aushält. Es stürmt nun, und zwar gewaltig. Das ging schneller als gedacht. Erste Regentropfen fallen. Regen ist immer eine schlechte Bedingung für Lost Places, da er das Gemäuer aufweicht und zusätzlich unberechenbar instabil macht. Hastig klettere ich zurück um das Gebäude und in den Hintereingang. Über mir höre ich bröckelnde und schließlich herunter krachende Geräusche von abbrechenden Wandteilen. Das Gebäude hat dem heftigen Sturm nicht viel entgegenzusetzen. Es rumst heftig vor mir in dem bereits teilweise eingestürzten Part. Ich nehme Fotoasche, Stativ und Beine in die Hand und renne zur Hintertür. “Hauptsache raus”, ist der einzige Gedanke, der in solchen Momenten im Kopf ist. Irgendwie bammele ich mir Stativ und Tasche über die Schulter, um den Hang hochklettern zu können. Ich weiß nicht, wieviel Kraft ich in einem entspannten Moment habe – in diesem Augenblick jedenfalls sehr viel. Das Adrenalin puscht und treibt mich in der gebotenen Schnelligkeit den steilen Hang hoch. Alles kommt zum Einsatz: Hände, Füße, Ellenbogen und Knie, auf allen Viren krabbeln und von Baumstamm zu Baumstamm hangeln. Aus dem Gebäude hinter mir sind weitere unangenehme Geräusche zu hören. Verwitzt stehe ich oben auf dem Waldweg und zum Auto. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen – auch kein Feuerlöschzug. Kurz muss ich grinsen. Ungesehen hinein, ungesehen hinaus – das ist mein zweiter Codex beim urbexen (neben dem ersten: nichts zu zerstören und nichts zu hinterlassen außer meinen Fußspuren).
Was für ein Tag, was für ein Erlebnis (mal wieder)…