VEB Chemiewerk Coswig Rüdersdorf
Ein verlassenes Futtermittelwerk aus DDR-Zeiten als gigantische Ruinenlandschanft
Es ist noch Winter, ich muss also mit meiner dicken Winterjacke losziehen – in gelb. Nicht gerade unauffällig, denke ich bei mir, aber meine Bedenken entpuppen sich als unbegründet, sobald ich das Gelände des ehemaligen VEB Chemiewerk Coswig in Rüdersdorf betrete. An alten Eisenbahnwaggons sprayen sich Jugendliche die Graffiti-Dämpfe um die Ohren, eine Familie schlendert gerade in eine der großen Hallen und weitere Stimmen sind aus diversen Ecken zu vernehmen. Das verlassene VEB Chemiewerk Rüdersdorf, das ein Betriebsteil (BT) der VEB Coswig war, ist zwar schon lange Jahre geschlossen und heute ein Lost Place, aber alles andere als lost und erst recht nicht verlassen. Ich kann es gut nachvollziehen: die gigantischen Bauten auf dem großen Gelände strahlen immer noch eine imposante Macht aus. Die zersprengten Betonteile beweisen in ihrem Abbruch umso mehr ihre dicke Masse. Alles wirkt schwer und übergroß. Ich muss den Kopf weit in den Nacken legen, als ich unter den 4 runden Gebäudeteilen stehe und hoch schaue. Unwillkürlich frage ich mich, wozu sie dienten und wie man da etwas hinein bekommen hat. Von oben kann ich mir nicht vorstellen. Oder hat man von unten etwas hochgepumpt? Ich weiß zwar, das die VEB Coswig ein Futtermittelwerk (genauer gesagt: Futterphosphatwerk) war, dennoch nehme mir vor, mich mehr mit Industrieanlagen wie diesem zu befassen.
Als ich das größte Gebäude mit den zwei Schornsteinen betrete, erschlägt mich das räumliche Ausmaß fast, und ich komme ich mir wie ein Zwerg in einem Land der Riesen vor. Ich hatte schon oft Bilder von einem bestimmten Graffiti-Tag auf einem Tank gesehen und war gespannt, wie es in Natura wirkt. Zugegeben: die Tanks wirken auf Bildern größer, als sie sind. Meine Aufmerksamkeit wandert weiter zu der obersten der drei Plattformen der Silo-Trichter, wo ein paar junge Männer bis an den blanken Rand herumlaufen. “Mannomann, typisch Mann”, denke ich im Stillen, “am Betonrand ist kein Geländer und nichts – ein Stolperer, ein Fehltritt und man stürzt betonhart in den Tod!!” Trotz meiner leichten Höhenangst will ich mir den Blick von dort oben aber doch nicht entgehen lassen. Natürlich nur bei höchster Aufmerksamkeit, langsam behutsamen Schritten und weit genug von jeglichen Rändern entfernt. Es gibt diverse Absturzbereiche ganz oben, da es im Beton mehrere quadratische Loch-Aussparungen bis in die Tiefe gibt. Mir ist mulmig zumute. Kriechend wage ich mich an den Rand eines Lochs heran und mache mit verschwitzter Hand ein Handybild, noch zwei Fotos mit der Cam von einem metallenen Gerät, dann trete ich doch lieber den Rückzug an, den Blick vor jeden meiner Schritte geheftet. Ich muss zugeben, ich bin durchaus kein so ängstlicher Mensch und finde die Abenteuer in Lost Places auch immer spannend, aber solche ungesicherten Gebäudebereiche sind ganz und gar nicht mein Fall.
Schon im nächsten Gebäude erwartet mich ein ähnliches Erlebnis, diesmal um einiges gefährlicher! Ich gehe die Betontreppe in einem der Treppenhäuser hoch bis in die oberste Etage. Die breiten Treppen verhindern ein vorausschauendes Gehen. Als ich den letzten Treppenabsatz hochgehe, überlege ich eine Sekunde, ob ich meine Kamera schonmal einschalte, aber irgendetwas hält mich davon ab, meinen Blick auf die Fototasche zu lenken. Zum Glück! Im Treppenhaus ist es beim Hochgehen hell, aber die Halle, zu der die Türöffnung im obersten Stockwerk führt, ist innen dunkel. Man läuft also quasi in ein dunkles Unbekanntes. Hinter der Türöffnung landet man auf einem sehr, sehr schmalen Beton-Sims, gerade mal so breit wie ein Menschenkörper. Ein dünnes Metallgeländer ist am Rand angebracht, als (magerer) Schutz vor der Tiefe der Halle – jedoch nicht direkt gegenüber der Türöffung, also an der Stelle, wo man von der Treppe in die Halle auf den schmalen Sims tritt! Irgendein undichter Geist hat das Geländer weggefräst, sodass man mit unbedacht schnellem Schritt geradewegs in die Tiefe fallen würde! So beeindruckend die Hallen auch sind, für meinen Geschmack sind ein paar gefährliche Bereiche zuviel.
In dem Verwaltungsgebäude am Anfang des Betriebsgeländes fühle ich mich wohler. Der typische Muff von verlassenen Gebäuden, der zwischen den alten Türen und Fenstern hängt, lässt mich schmunzeln. Das verzierte Treppengeländer und ein paar Überbleibsel aus den aktiven Bürozeiten geben das eine und andere Motiv ab. Die Sonne sinkt und gibt mir das Signal, Feierabend zu machen: ich habe etwa 8km abgelaufen und freue mich auf ein warmes Lokal mit lecker Essen und einem Bierchen.
Links zum geschichtlichen Hintergrund:
http://www.rottenplaces.de/main/chemiewerk-coswig-bt-ruedersdorf-4304/