Der verlassene Ballsaal “Rosetten-Muster”
Manche Dörfer bestehen nur aus einer Straße. So kommt es mir zumindest manchmal vor. Das führt dann auch dazu, dass ich genauso schnell wieder aus dem Ort heraus gebraust bin, wie ich herein gefahren kam. Einfach, weil ich gar nicht mit dem plötzlichen Ortsende gerechnet habe, erst recht nicht mit dem unvermittelten Auftauchen des verlassenen Kulturhauses mit Ballsaal, das ich suche. Lost Places habe ich bisher immer so kennen gelernt, dass man sie schon aus 3 km Entfernung “riechen” kann, auf jeden Fall stünde ihnen auf der Stirn geschrieben “verlassen”, wenn sie ein Gesicht hätten. Aber das Aussehen dieses verlassenen Kulturhauses ist genauso unscheinbar, wie es bei normalen Häusern oder Gutshäusern ist: schlichte Fassade, grauer Putz, rechteckiger Bau. Tückischerweise haben auch nicht alle Kulturhäuser mit Ballsaal diese Fenster mit Bogenform, was man ja fast schon erwartet. Das schlichte Äußere dieser Lost Places darf auf keinen Fall unterschätzt werden. Die darin befindlichen Ballsäle sind oft umso erstaunlicher.
Als ich die schmale Treppe hoch komme, fühle ich mich wie in einer kleinen Disko meiner Jugend: links der Raum, wo man die Jacken abgeben musste, wobei ich damals eine Nummernmarke bekam. Hier stehen die Nummern direkt auf dem Holz der Kleiderständer. Ob man sich die dann merken musste? Stelle ich mir sehr anstrengend vor, denn vielleicht hätte man ja jemand kennen gelernt, von dem man die Telefonnummer bekommt und dann eventuell die Zahlen mit der Jacken-Nummer durcheinander bringt. Vielleicht gab es hier ja auch Marken zum Mitnehmen, und alle Gäste haben die bei ihrem letzten Besuch vor Schließung dieses Ballsaals behalten. Aber dann wären ja noch die Jacken da. Ich verwerfe weitere Gedanken und suche den Ballsaal.
Wie auch bei meiner alten Disko gehe ich rechts von der Treppe in den großen Saal und stehe auch schon im Highlight. Auf dem Fußboden finde ich ein paar rote Klebestreifen mit Glitzerkram. Ich schaue an die Decke und begreife: die Rosetten, die das Muster dieses verlassenen Ballsaals ausmachen, sind alle aus diesen einzelnen Klebestreifen. Ich überlege kurz: das würde heißen, jemand muss die ganzen Streifen in Handarbeit an die Decke geklebt haben. Echt jetzt?!?! Mein scharfes Auge erkennt leichte Ungleichmäßigkeiten in den Formen. Handarbeit kommt also hin. Arbeit auch, und was für eine: ätzend und müßig. “Wär nicht meins”, denke ich lässig und lasse “Saturday night Fever” im Kopf laufen. Ich wippe in den nächsten Raum. Das wiederum wär absolut meins: ein kleiner gemütlicher Raum mit Theke und eine Decke aus bunten Quadraten, die mich an Lego erinnern. Es ist warm draußen. Ein Barhocker wär jetzt schön und ein kühles Getränk. Aber für die Disko ist es eindeutig zu hell draußen, außerdem irritiert das eifrige Zwitschen der hellwachen Vögel. Und so drifte ich wieder Richtung Garderobe, verabschiede mich mit Gedanken alter Diskotage und verlasse dieses Kulturhaus hinaus in die aktuelle Realität…