Die verlassene Villa K

Die verlassene Villa K

Die Straßenbahn tuckert gemächlich ihre Strecke entlang. Es ist schönes Wetter, das Licht dürfte genau richtig sein für dieses alte Haus, dass mit seiner verschachtelten Architektur im Stil der Neorenaissance schon etwas leicht Gruseliges an sich hat und durchaus für einen Hitchcock-Thriller herhalten könnte. Zumindest wirkt die Villa äusserlich ziemlich unheimlich, allein schon durch die zurückversetzte Lage, versteckt hinter Bäumen und dichtem, hochgewachsenem Gestrüpp. Mein Plan ist es, von der Nebenstraße anzugreifen. Dazu muss ich warten, bis der langsam heran eiernde Fahrradfahrer weg ist und auch ansonsten niemand auf der Straße ist oder kommt, um dann in zwei gezielten Klimmzügen den Eisenzaun zu übersteigen. Genau in dem Moment, wo ich mein rechtes Bein hinüber geschwungen habe und noch nach Trittstand suche, kommt aus dem Haus schräg gegenüber eine Familie mit zwei Kindern. “Die werden ja wohl nicht gerade zu einem der Autos vor mir wollen”, denke ich so, als ich schon die Mutter auf den Van zuströmen sehe, der natürlich direkt vor mir parkt. Die Kinder strömen schnell hinterher, der Papa schließt bereits die Haustür ab. Ohne lange zu überlegen, wie die Sachlage unter mir aussieht, schwinge ich in einer Drehbewegung auch mein linkes Bein über die Eisenspitzen des Zauns und lasse mich gleichzeitig rückwärts fallen. Mein Fall ist allerdings schneller als mein linkes Bein, dass sich in den Ästen eines großen Busches verheddert und ich mit dem Schuh daran hängen bleibe. Der Rest meines Körpers hat den Boden teilweise erreicht. Die Familie ist inzwischen längst am Van vor mir angekommen, die Mutter läßt die Seitentür aufschnellen und schiebt ihre beiden Kinder hinein. Mit ebensolchem Schnellschwung knallt die Seitentür zu. Mich würdigt niemand von der Familie eines Blickes. Ich kann es gar nicht begreifen, da ich doch so dermaßen krachend in die Büsche gestürzt bin und mit einem Bein noch in der Luft hänge. Zumindest habe ich diverse Äste raschelnd und knackend mitgerissen, dass man kaum von leiser Unauffälligkeit sprechen kann. Wie dem auch sei, die Familie braust davon und ich bringe all meine Bauchmuskeln in Aktion, um meinen verhakten Fuß zu lösen und endlich gänzlich zu Boden zu gehen. Raschelnd dränge ich mich nun durch die hohe Vegetation. Die eine oder andere Spinne bleibt wütend an meinen Klamotten hängen, weitere Insekten versuche ich gar nicht erst zu identifizieren. Zwischen Mücken, Fliegen und verschontem Spinnengewebe erspähe ich den hinteren Garten und ein seltsam längliches fleischfarbenes Teil. “Liegt da etwa wer und sonnt sich?”, geht es mir durch den Kopf. Ich pirsche näher. Schwer zu erkennen. Ich wage mich weiter vor. Eine Brille hätte mir schneller hilfreiche Aufklärung beschert. Ich schleiche noch näher, um dann kurz vor dem eh sichtfreien Rasen endlich zu erkennen, dass da irgendein Rohr aus dem Keller kommt, dass in seiner Form etwas menschenähnliches hatte. Zumindest auf die Entfernung und ohne Brille. Mit inzwischen überanstrengten Oberschenkelmuskeln richte ich mich erleichtert auf. Allerdings nicht für lange, das Kellerfenster erfordert nochmal starke Verbiegungen von mir.

Im Inneren herrscht eine düstere Atmosphäre. Ich laufe durch hohe Räume, in die durch die geschlossenen hölzernen Fensterläden wenig Licht eindringt, dazu wirken die dunklen Holzvertäfelungen trübe. Teilweise hängt noch die dunkelrote Samttapete an den Wänden. Anfangs war ich mehr damit beschäftigt, mich nicht zu verlaufen, denn die miteinander verbundenen Räume können einem schon leicht die Orientierung rauben, und zwischendurch hatte ich immer mal wieder ein mulmiges Gefühl. Rückblickend kommt mir das große Herrenhaus sogar noch unheimlicher vor, als während meines Besuchs, aber das ist wohl auch besser so.

geschichtlicher Hintergrund

Bauherr des Hauses mit insgesamt 66 Räumen war der Chemiker Carl K., Generaldirektor einer Chemischen Fabrik, der die Villa als Wohnhaus nutzte.
Der Chirurg Anton J. K. war bereits ab etwa 1920 im 1. Stock als Einmieter und übernahm die gesamten Räumlichkeiten für seine Klinik um 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Chirurg S. darin eine Klinik eingerichtet.

Fraglich bleibt mal wieder, warum es bis heute nicht möglich war, durch eine Entscheidung zur Sanierung ein so schönes Stück zu retten. Hintergrund ist wohl der Streit mit den Eigentümern, der immer noch nicht beigelegt ist. Es handelt sich nach wie vor um ein noch offenes gerichtliches Verfahren.